Zillertaler Bergführer
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s' Buhldachl

Warm schien das Licht ins Klassenzimmer der Landesberufsschule für Tischler in Absam. Die Sonnenstrahlen und die Leichtigkeit des blauen Himmels steckten an – um zu träumen, aber sicher nicht, um über Schulstoff nachzudenken. Mein Durst nach Bergen und Abenteuer musste gestillt werden, nicht mit einer Wanderung, nicht mit einer Hochtour – eine Kletterei musste es sein, eine gewaltige Kletterei.

Das Rofangebirge war gesetzt. Riss und Kaminklettern waren nicht ganz das, was ich suchte. Was war machbar, was war gewaltig? Ich ging die Anstiege durch, die den höchsten Reiz auf mich ausübten. Da war der direkte Weg durch das Ypsilon im obersten sechsten Grad, erstbegangen 1923 von keinem Geringeren als Hans Fiechtl. Leider hatte dieser Anstieg, den ich wiederholen wollte, einen Haken: Er musste absolut trocken sein, und eine vergangene Regenperiode hatte meinen Plan zunichtegemacht.

Was war noch in dieser „Liga“? Die Gelbe Verschneidung am Klobenjoch? Oder das Buhldach an der Rofanspitz-Nordwand – das Buhldach- das war gewaltig und schon lange ein Ziel. Immer wenn ich am Rofanturm stand, blickte ich in das weit ausladende Dach hinein, studierte die Zustiegskletterei und wurde auf der Schulbank sitzend von einer inneren Unruhe gepackt. Das Kletterfieber hatte mich erwischt. Jetzt stand noch eine Frage im Raum – nicht wie schwer, nicht wann, sondern mit wem dieser kühne Plan umzusetzen war.

Zu dieser Zeit gab es eigentlich nur eine Person, die das Können, die Ruhe und das Verständnis für dieses Unternehmen aufbrachte: Hubert. Ihm war es innerhalb der Bergrettung Kaltenbach zugeteilt, sich uns anzunehmen. Wir konnten aufgrund unseres Alters nicht Mitglieder dieser wertvollen alpinen Organisation werden. Aber unser Vater, Taufpate und Onkel waren bereits Mitglieder, und so sah man eine gute Möglichkeit, uns „Ungezähmten“ ein bisschen Richtung zu geben – vor allem aber Sicherungs- und Sicherheitsverständnis nahezulegen.

Hubert musste nur noch zustimmen – und das Einverständnis seiner Frau Martha einholen. Martha ist der Begriff von Warmherzigkeit, Geduld und Verständnis. Sie ist wie nach Hause kommen, immer ein leichtes Lächeln auf den Lippen, selbst in größter Sorge findet sie etwas Positives. Von Martha kam das legendäre „Aufpassen“ als Zustimmung – und von Hubert ein Ja, wobei Hubert noch hinzufügte, dass es von ihm keinen Klettermeter Führungsarbeit geben würde, womit er mir heimlich entgegenkam.

Der Sommertag war perfekt. Das Wetter stimmte, der Fels war trocken, und die Temperatur in der sonst kalten Nordwand des Rofanspitzes angenehm. Der Einstieg war gefunden, und in einer sonst seltenen Leichtigkeit ging es über den gestuften Wandvorbau. Nie im Leben hatte ich eine solche Energie in mir verspürt, nie zuvor war ich so fokussiert auf die Klettermeter vor mir. 

Hubert erwies sich als der ideale Partner für dieses Unternehmen. Ein kleines Dach in der ersten Seillänge, schon im unteren sechsten Grad – und der große Hermann Buhl wusste, was der sechste Grad bedeutete, stellte kein Problem dar. Auch die nächsten Seillängen im oberen Schwierigkeitsbereich fielen mir leicht. Ich war, wie man heute sagen würde, im „Flow“.

Dann der Quergang – und ich war im „Loch“. An der linken Ecke dieses weit ausladenden Daches dient ein Loch als Standplatz. Blickt man hier hinunter, nimmt die Exponiertheit dieses „Vogelnestes“ einem im wahrsten Sinne des Wortes, den Atem. Bestückt mit einigen Schlaghaken, unterschiedlich weit in den Fels getrieben und von fragwürdiger Belastungsfähigkeit, kauert der Sichernde in dieser kleinen Hölle, während der Vorsteiger in einer für mich zuvor noch nie dagewesenen Ausgesetztheit zuerst über die Dachkante und dann in einen verschlossenen Riss aufsteigen muss, um nach links über eine Platte in leichteres Gelände zu gelangen.

Die nächsten 15 Meter waren also entscheidend. Von mir hing alles ab, was auf diesen Metern passiert. Mutig wollte ich sein – nur Mut und Nerven sind nicht immer eine Einheit. An der Dachkante bekam ich die gefürchtete „Nähmaschine“: eine Muskelzucken auf Grund des fast versagenden Nervensystems, die unkontrolliertes Zittern auslöst. Die Koordination meines linken Beines versagte das Zittern übernahm, und aus eigener bereits gemachter Erfahrung folgt unweigerlichen Sturz. Ich sah meinen gerade mal siebzehnjährigen Körper schon ins Leere stürzen und im Kar aufschlagen.

Da kam die Hand von Hubert auf meinen Fuß. Er streckte sich aus der Hölle heraus, beruhigte mit dieser Berührung meinen Fuß und mit seinen vertrauensvollen Worten meine Nerven. Eine in dieser Situation für unmöglich gehaltene Ruhe kehrte in mich ein. Vertrauen und Überzeugung in mein Können fluteten mich und ließen die Begehung des Buhldaches in der Nordwand des Rofanspitzes erfolgreich zu Ende bringen – unverletzt, überwältigt und seit 1983 unvergessen.

#365 Tage Freude am Berg