Zillertaler Bergführer
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Das Firndreieck mit Ski

Der alpine Zug, den ich Anfang der 80er-Jahre bestieg, hieß: immer steiler, immer schwieriger, immer verwegener. Alles, was „bremste“, wurde beiseitegeschoben oder so lange trainiert, bis es gelang. Diese Einstellung zog sich durch alle Bereiche des Bergsports. Eine lange, mühsame Skitour war bald zu wenig. Vorbilder, oder besser: Alpinisten zum Nacheifern, gab es genug – ihre Bücher wurden zur Abendlektüre, ihre Taten in den heimischen Bergen nachgeahmt.

Einer der Namen, der mich damals faszinierte, war Silvain Saudan, der Urvater des Extremskilaufs. Noch heute tue ich mir schwer, seinen Namen richtig auszusprechen, aber das, wofür er stand, hatte eine enorme Anziehungskraft auf mich. Alles, was mit Ski als unbefahrbar galt, hat er mit Ski befahren: das Whymper- oder das Gervasutti-Couloir am Mont Blanc, das Marinelli-Couloir an der Monte Rosa, die Westflanke des Eigers oder die Südseite der Grandes Jorasses.

Meine Skitechnik war – aus heutiger Sicht – miserabel, eher ein Husarenritt als ausgefeiltes Skifahren. Doch das Steilwandskifahren wurde zu meinem neuen Steckenpferd. Mit wenig Ahnung, aber viel Begeisterung packte ich meine Skitourenausrüstung und stapfte wieder einmal zur Berliner Hütte. Mein Partner war diesmal Kopp Georg, eine tief in sich ruhende Persönlichkeit, die ich beim Jugendkurs auf der Franz-Senn-Hütte kennengelernt hatte. In späteren Jahren meisterten wir gemeinsam so manche ernsthafte Bergtour und einige Bergrettungseinsätze.

Unsere Skiausrüstung versteckten wir in der Nähe der Hütte, damit uns Gerhard Hörhager, der Hüttenwirt und Bergführer, dieses Vorhaben nicht ausreden konnte. Auf die übliche Frage von ihm: „Was habt’s vor, Burschn?“ antworteten wir nur: „Das Firndreieck.“ Wie – das sagten wir lieber nicht.

Am nächsten Morgen brachen wir zeitig auf, dem Firnschild an der rechten Seite des Großen Möselers entgegen. Das Firndreieck war eine meiner Lieblingstouren. Mit meinem Onkel Christian, nur elf Jahre älter als ich, hatte ich hier schon einmal eine so schnelle Begehung geschafft, dass sie am selben Abend bei einem Vortrag in Mayrhofen noch diskutiert wurde, da die schnellen Begeher nicht bekannt waren wurde einiges gemunkelt zur Freude von Christian.

Auch diesmal kamen wir schnell voran. Die Bedingungen waren ideal: leicht aufgeweichter Schnee, der sich gut stapfen ließ, aber nicht zu weich wurde. Die Randspalte war kein Hindernis, die kurze senkrechte Passage schnell überwunden. Der schöne Stapffirn ließ uns auf das Seil verzichten – an den Rückweg dachten wir keinen Moment.

Nebel zog auf, es war auch nicht der Plan auf den Gipfel zu gehen, wir beschleunigten vielmehr die letzten Meter des Firndreiecks. Der Drang, das neue Erlebnis des „Hinunterfahrens“ zu spüren, war stärker. Tourenausrüstung auf „Abfahrt“ gestellt – und los ging es. Die ersten „Schwünge“ waren eher mehr oder weniger kontrollierte Hüpfer, jeder Sprung ein verzweifelter Versuch, wieder Halt auf der Kante zu finden. Gott sei Dank verhüllte uns der Nebel etwas die Exponiertheit, in der wir uns bewegten. Von Sprung zu Sprung fühlte es sich besser an. Aus den unsicheren Hüpfern im 50°- 55° geneigten Firngelände wurden bald Stemmschwünge mit kontrollierten Rutschanteilen.

Nach etwa einem Drittel des rund 250 Meter langen Firnschildes mischte sich zur Gewöhnung an die Steilheit Freude hinzu. Eine adrenalinstarke Euphorie stellte sich ein. Atemberaubend war dieses Gefühl: der Moment, in dem der Skifahrer sich von der Kante löst, sich ähnlich einem freien Fall in der Falllinie ist um dann beim Steuern den Schwung uns seine Energie wieder abfängt – und dann wieder sicher auf der Kante steht. Ein Glücksgefühl sondergleichen wieder und wieder.

Die Randspalte kam rasch näher. Für die zwei Meter Breite brauchte es eine Lösung. Im Vertrauen darauf, dass unsere Spaltenkante höher lag, und ohne zu wissen, ob die andere den Aufprall aushalten würde, setzte ich zum Sprung an. Dank der Schanzensprünge in unserer Kindheit auf unseren selbstgebauten Hängen zuhause und mit dem Gedanken „nur zwei Meter“ gelang der Satz. Ins Loch hinunterzublicken, traute ich mich allerdings nicht.

Der Rest war nur noch Genuss: herrlicher Firn trug uns hinab zur Berliner Hütte, wo uns Gerhard mit den Worten empfing:
„Schneidige Burschn – nicht die besten Skifahrer, aber schneidig. Viele vor euch sind da noch nicht runtergefahren.“

Wie sich herausstellte, war er selbst der Letzte vor uns gewesen. Und davor nicht mal eine Handvoll im Format von Gerhard Hörhager senior – dem >>Diggl Gerhard<<.

#365 Tage Freude am Berg