auf’s Matterhorn mit Sechzehn
Mit gerade einmal 16 Jahren, als sich eben erst ein erster Flaum über meiner Oberlippe zeigte, hatte ich mir als Bergsteiger im Umkreis der Nachbardörfer bereits einen gewissen Ruf der Verwegenheit „erarbeitet“. So kam es, dass ich bei einem Festbesuch von Rieser Rudi aus Uderns, der gerade den Führerschein geschafft hatte, angesprochen wurde, ob ich nicht Interesse an einer gemeinsamen Matterhornbesteigung hätte. Alle Glocken in mir schrillten: Schweizer Berge, Wallis, Matterhorn – schon in der letzten Schulklasse hatte ich diese Namen aufs Federpennal gekritzelt.

Obwohl ich Rudi eigentlich nicht kannte, brachte er entscheidende Vorteile mit: Erstens Führerschein und Auto, zweitens als Metzgerssohn stets genügend Verpflegung in Form von Landjägern und Wurst, und drittens eine große Portion Kondition. An einem Sommerwochenende ging es los – Abfahrt in Uderns, ohne zu Hause Bescheid zu geben. Unser kleines blaues Kuppelzelt, das uns schon im Rofan treue Dienste erwiesen hatte, war mit dabei und diente als günstiges Nachtquartier. Dass Zelten im Bereich Furgg/Schwarzsee bereits 1981 verboten war, ignorierten wir großzügig.
Wir reisten an einem Freitag frühmorgens nach Zermatt, nahmen dieses schöne Dorf gar nicht war zu dominant stand „unser“ Berg darüber. Mit der Seilbahn kamen wir nach Furgg, richteten unser Lager ein und stiegen noch zur Hörnlihütte auf. Dort erfuhren wir zufällig, dass die Schweizer Bergführer bereits um 03:30 Uhr mit ihren Gästen aufbrachen. Angesichts unserer Unerfahrenheit entstand der Plan: zurück zum Zelt, kurz schlafen, um 02:00 Tagwache und dann versuchen, uns hinter eine geführte Seilschaft zu hängen.
Die Nacht war klar und kälter als gedacht, darum war das Aufstehen kein Problem – das Warten auf der Hörnlihütte jedoch schon. Verschwitzt angekommen, froren wir in der langen Pause. Dann endlich: Das Außenlicht ging an, Bergführer traten mit ihren Gästen vor die Tür, ihr Atem dampfte im Schein der Stirnlampen, die Stimmung gefüllt von Anspannung gegenüber dem Kommenden. Es ging los – und wir schlichen uns in einer kleinen Lücke hinterher.
Schnell bemerkte der Bergführer, dass er „Verfolger“ hatte. Er erhöhte das Tempo, was seinem Gast zu viel wurde, uns jedoch kaum. Schließlich musste er abbremsen, sehr zum Ärger des Führers, aber zur Erleichterung seines Gastes. Das Gelände war nicht allzu schwer, und so kam uns nicht der geringste Gedanke, das mitgetragene Seil zu verwenden.
Im ersten Tageslicht sah der Bergführer schließlich, dass ihm Kinder folgten. Ungläubig, aber nicht drohend, akzeptierte er diesen Umstand. Ihm war sofort klar: ein „Abschütteln“ war unmöglich, ein „Davonjagen“ zwecklos. Wir hingegen waren viel zu entschlossen, diesen Gipfel zu erreichen. Und da wir nun im hellen Licht alles überblickten, fühlten wir uns nicht gefährdeter als in den heimischen Zillertalern. So entstand unausgesprochen eine Art Duldung – wofür ich diesem Bergführer bis heute dankbar bin. Vielleicht war dies einer der ersten kleinen Bausteine, die mir später in meinem Beruf als Bergführer half: Milde und Verständnis für Schwächere zu zeigen.
Unter den Augen unseres unfreiwilligen „Aufsehers“ war die weitere Besteigung des 4.478 m hohen Matterhorns für uns Halbwüchsige kein Problem mehr. Den Umgang mit extremem Gehgelände, mit und ohne Steigeisen, hatten wir in den heimatlichen Bergen ausreichend geübt. Der Auf- wie Abstieg gelangen uns unter dem professionellen Geleit ohne Schwierigkeiten.
Die Nacht im Zelt danach war fast schwieriger als der Berg selbst: ausgebrannt, vom wenigen Trinken geschwächt, mit brennenden Augen, war an Schlaf kaum zu denken. Der Rest erledigte das Adrenalin in unseren Adern. Der nächste Morgen war eine Mischung aus persönlichem Stolz, Dankbarkeit gegenüber dem unbekannten Schweizer Bergführer und völliger Übermüdung.
So traten wir die Heimfahrt ins Zillertal an – unbeschadet, aber voller Eindrücke. Zu Hause blieb mein Verschwinden übers Wochenende nicht unbemerkt. Als ich meine „Geschichte“ erzählte, reagierte mein Vater mit einer Mischung aus Sorge und Bewunderung. Die eigentliche Bedeutung dieser Unternehmung konnte ich damals selbst kaum erfassen – erst viel später als berufstätiger Bergführer, wurde mir klar, was diese erste Matterhornbesteigung wirklich bedeutete. Doch geblieben ist vor allem die tiefe Dankbarkeit gegenüber jenem unbekannten Zermatter Bergführer.