Nord am Großen Löffler
Eiligst mussten wir aus der Kälte heraus. Schon lange – zu lange – spürte ich meine Zehen nicht mehr. Als wir endlich am Gipfel des Großen Löfflers ankamen, dessen mächtige Nordwand nun hinter uns lag und uns die ersten Sonnenstrahlen wärmten, war da eine Art Neugeburt, Andreas erging es ähnlich. Georg kämpfte sich aus seinem bockhartgefrorenen Bergschuh, seine Socke war am Innenleder angefroren. Nur knapp – ganz knapp – entgingen wir ernsthaften Erfrierungen an den Zehen. Doch im wärmenden Licht erholten sich unsere Füße schnell wieder, und die Freude über die Durchsteigung der Nordwand überwog.

Von all diesen Erinnerungen, die sich aufgrund ihrer enormen Emotionen tief ins Gedächtnis eingebrannt hatten, blieb nur der Anstieg durch die Nordwand selbst klar und präsent. Der Abstieg hingegen verschwand völlig aus meiner Erinnerung. Heute, vierzig Jahre später, könnte ich nicht mehr sagen, wo, wie oder über welchen Weg wir abgestiegen sind und zur Kasseler Hütte zurückkehrten.
Mittlerweile war ich Mitglied des österreichischen Bergrettungsdienstes und nahm mit meiner Ortsstelle am jährlichen Ausflug teil. Ziel war die Kasseler Hütte im Stilluppgrund – einem der schönsten und unberührtesten Seitentäler des Zillertals. Es war Pfingsten, die Hütte geöffnet, und gleich bei der Ankunft stach uns – Georg Kopp, meinem Bruder Andreas und mir – die Nordwand des Großen Löfflers mit ihren 500 Hm und 55° steilem Eis und im Fels Kletterei bis zum dritten Schwierigkeitsgrad ins Auge. Diese Wand zählt zu den ganz großen Unternehmungen in den Zillertaler Alpen. Sie reiht sich ein zwischen die Sagwand-Nordwand, die Hochfeiler- und Hochferner-Nordwand, den Turnerkamp, Grundschartner und Fußstein mit ihren die schönsten Graten und Kanten im Gneis Gestein der Ostalpen.
Die Verhältnisse waren perfekt, die Temperaturen kalt. Die Nullgradgrenze lag, wie damals üblich, weit über 4000 Metern. Am ersten Tag machten wir brav bei der Gemeinschaftsskitour mit und zogen unsere Schwünge zurück zur Hütte. Doch der Organisator ahnte bereits, dass wir „Jungen“ längst ein anderes, lohnenderes Ziel ins Auge gefasst hatten.
Letzter Tourentag des Bergrettungsausflugs, der Morgen war es richtig kalt, das Wetter nicht mehr so perfekt wie zuvor, doch das Mondlicht reichte aus. Wir zogen ohne Stirnlampen in Richtung Nordwand des Großen Löfflers, mit dem Anstieg von 1879 im Visier. Was tut man bei solcher Kälte, um warm zu werden? Man erhöht das Tempo. Und so sprinteten wir der Wand förmlich entgegen.
Den ersten Firnhang gingen wir noch Seil frei. Als es steiler wurde, verbanden wir uns – Georg, Andreas und ich – zu einer Seilschaft. Herrliches Stapfen im harten Firn brachte uns rasch zum markanten Felsvorsprung, der die Hauptrinnen teilt und sich darüber zu einem großen Schneefeld wieder vereint. Lange überlegten wir nicht: Links führt die Originalroute, doch dort lockte ein einladender, etwa zehn Meter hoher Eisfall.
Aus der Ferne unterschätzt, zeigte er sich aus der Nähe steiler und mächtiger, als erwartet. Nun wurde es eng: Zu wenige Eisschrauben – Halbrohrschrauben der Firma Stubai – hatten wir dabei. Also blieb uns nichts anderes übrig, als mehr frei im senkrechten Eis zu klettern, als uns lieb war. Zum Glück zahlten sich die Trainingstage am Hintertuxer Gletscher im Eisbruch des Tuxer Ferners aus. Das Eis war nicht zu spröde und ließ sich gut bearbeiten. Dennoch brauchte es viel Zeit – Stehzeit, in der die unnachgiebige Kälte in unsere bescheidene Kleidung kroch und bis in die Knochen drang.
Nach dieser „Zwischeneinlage“ mussten wir erst wieder in Schwung kommen, was mehr schlecht als recht gelang. Die Temperatur drückte auf die Muskeln, was mich doch immer wieder zu Äußerungen hinriss vielleicht auch nur um zu hören, dass es Georg und Andreas gleich erging aber nichts kam zurück- wie bereits am Firndreieck ertragen in stoischer Ruhe war die Devise von Georg und Andreas folgte ihm in dieser Richtung, zudem forderte das zu schnelle Anfangstempo seinen Preis. Doch schließlich meisterten wir die letzte Rinne – und die Sonne half, die Spurarbeit bis zum Gipfel durchzuhalten.