Vom Verlust der Unschuld
Ein perfekter Klettertag brach an. Wir wurden zur Talstation des mittlerweile stillgelegten Kramsacher Sessellifts gebracht, der uns auf bequemste Weise zum Sonnwendjochhaus brachte. Von dort aus ging es weiter zum traumhaften Zireiner See und in knapp einer Stunde an die Ostwand der Rofanspitze, der der Rofanturm vorgelagert ist.
Frohgelaunt und begleitet von den ersten Sonnenstrahlen machten wir uns auf den Weg zu unserem vertrauten Kletterein. Zu dieser frühen Morgenstunde traf man kaum Menschen, was die Idylle des Anstiegs noch verstärkte. Den Weg kannten wir in- und auswendig und nahmen ihn mit dem unbeschwerten Gefühl der Jugend.

Obwohl wir schon schwerere Routen gemeistert hatten, war unser Ziel heute wieder einmal der Spiralweg – eine Klettertour, die nicht allzu schwer, aber sehr abwechslungsreich ist: ein kaminartiger Einstiegsseilänge, ein Durchschlupf durch das „Heilig-Geist-Loch“, das hoch auf ein Band führt, und eine Abseilstelle, die sich eher als leicht absteigende Querung entpuppt. Danach folgen eineinhalb Seillängen im oberen vierten Schwierigkeitsgrad bis zum höchsten Punkt des Turmes. Schließlich führt ein gewagter „Abseiler“ zwischen der Nordwand der Rofanspitze und dem Turm, ehe man über zwei weitere Abseilstellen den Boden erreicht.
Am Wandfuß trafen wir Fred aus dem vorderen Alpbachtal. Schon beim letzten Mal war er uns aufgefallen: Mit einem Kletterpartner hatte er den Spiralweg begangen, und an der letzten Abseilstelle trafen wir aufeinander. Fred war ein Kletterneuling, leicht an seiner unsicheren Haltung zu erkennen: nervös am Standplatz, unsicher im Umgang mit dem Sicherungsseil, beim Klettern nahe am Fels geduckt – eine Position, die kaum Übersicht über Griffe und Tritte bot – und angespannt am Abseilpunkt. Fred war ein Bergsteiger alter Schule, der noch mit Knickerbockerhose unterwegs war – diese Hosen hatten für gewöhnlich eine Befestigungsschnalle im unteren Kniebereich, die bei jeder Bewegung schepperte, besonders bei der „Nähmaschine“, einem unruhigen Beinzittern aufgrund der angespannten Nervensituation.
Diesmal jedoch war Fred Vorsteiger, und das noch auf der deutlich schwierigeren Nordostkante – eine Route, die ihn schon beim Spiralweg leicht überfordert hätte. Wir wünschten ihm wie gewohnt viel Glück und beobachteten ihn aus sicherer Entfernung. Seine Technik hatte sich nicht verbessert, und augenscheinlich war ihm der Unterschied zwischen Vor- und Nachstieg sowie die damit verbundenen Anforderungen an Nervenstärke und Kletterkönnen nicht bewusst.
Wir gingen wenige Meter zu unserem sonnigen Rastplatz, genossen die wärmende Sonne und besprachen die weiteren Klettermöglichkeiten. Einer der Risse in der Ostwand sollte es werden. Gerade als wir aufbrachen, ertönte ein durchdringender Schrei, ein fallender Körper – und dann Stille. Beängstigende Stille.
Schnell rannten wir zum Ort des Geschehens. Dort sahen wir einen verstörten Sichernden am Boden, mit bis auf die Knochen aufgebrannten Händen vom durchrutschenden Perlonseil – das Ergebnis eines Sturzes bei zu loser Seilführung. Noch dramatischer war Freds Situation: kopfüber, wenige Meter vor dem Boden. Den Aufschlag hätte er mit Sicherheit nicht überlebt – sein blutüberströmter Kopf und der deformierte Unterkiefer waren erschreckend.
Wir mussten Fred schnell durch kontrolliertes Nachlassen des Seils auf den Boden bringen. In seinem Schock versuchte er zwischen ausgeschlagenen Zähnen und verletztem Unterkiefer zu erklären, was passiert sei. Bis wir ihn annähernd dazu brachten, den Mund zu schließen – oder das, was noch zu erkennen war, nicht mehr zu bewegen – verging einige Zeit.
Damals gab es noch keine Notruf-Apps oder Mobiltelefone. Aber es gab eine frisch errichtete Notrufsäule neben der Bergrettungshütte der Ortsstelle Kramsach. Über diese Funkstation wurde der Notruf abgesetzt. Unsere Aufgabe war nun, Fred zu einer nahegelegenen ebenen Fläche zu bringen, die als Hubschrauberlandeplatz markiert war.
Die weitere Bergung verlief problemlos. Fred überlebte, wurde aber beim Klettern nie wieder gesehen. Für mich, gerade einmal siebzehn, war es eine schlagartige Erkenntnis: Ich erkannten, wie gefährlich das war, was wir taten, wie oft wir Glück gehabt hatten und was es bedeutet, verantwortungsvoll mit dem Leben umzugehen. Über Witze und Streiche Gleichaltriger konnten ich nicht mehr so wie früher lachen. Ich persönlich verlor an diesem Tag meine Unbeschwertheit, wurde ernster und überlegter in meinem Handeln – was mich auch nicht vor weiteren Unfällen schützte. Doch dieser Tag war ein entscheidender Wendepunkt in meinem Leben.