Zillertaler Bergführer
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Die Schatzhüter der Reichenspitze

Im Dorfe Stumm, links am Ziller, wo die Kirchtürme grün bemalen sind, wurde über Generationen erzählt:

Es war um Johanni, der Himmel war klar, und der Tag versprach heiß zu werden. „Heute gilt‘s!“ sprach zu sich der Bauer: „Heut heißt‘s Sensen dengeln, was mein Arm aushalt‘, denn es wird ein Tag, an dem‘s mit einer Sonne rauschdürres Heu gibt, Vormittag wird‘s niedergemäht, abends wird heimgefahren.“

Da kam auf einmal ein Mann vom andern Ende des Steigs dem Bauern entgegen; es war der Nachbar im wolligen Wintergewand und versehen mit einem starken Bergstock. Der Bauer lachte auf: „Ja wohin willst du denn hin? Schaust ma grod aus wia a Eismandl.“ Der Angeredete grüßte nicht und ging am Bauern kalt vorbei, kalt im wahrsten Sinn des Wortes; denn es ging eine Kälte aus, daß es den Bauer überrieselt, da spricht der Nachbar mit tiefer Stimme: „Auf d‘ Reich‘nspitz! Gold hüten!“ Als der Bauer nach Haus kam, rief ihm sein Weib die Neuigkeit entgegen, der Nachbar sei in der Nacht verstorben. Nun ging dem Bauer ein Licht auf. Vor Jahren war das Anwesen des Nachbarn so herabgewirtschaftet, daß es um ein Haar versteigert worden wäre. Da war der Nachbar einige Tage fort, kam vergnügt wieder und seine wirtschaftliche Situation verbesserte sich. Auswärtige Freunde, sagte er, haben ihm geholfen. Ja sehr auswärtig! - droben die Schatzhüter auf der Reichenspitz hatten das getan.

Genauso wie einst, da erzählten auch die Leute im Pinzgau, daß ein grundreicher Mann auf dem Sterbebette lag. Bei ihm seine Brüder, mit traurigen Mienen und bekümmerten Gedanken, unter Seufzen entrang sich die Seele des Todkranken ihrer irdischen Hülle. In diesem Augenblicke ging draußen ein Mann vorbei mit kummervoller Miene, bekleidet mit warmen Jägerkleid, wie man es im Winter trug, seinen Stacklstecken fest in der Hand. Dieser Mann sah leibhaftig so aus wie der Verstorbene, und die Brüder überlief ein eiskalter Schauer. „Gott tröste ihn! O weh, o weh! Der muß hinauf zur Reichenspitz auf ewige Zeit Schatz hüten!“ Da faßten die Brüder den Entschluß, ihren verstorbenen Bruder von seiner Pein zu erlösen.

Rasch machten sie sich reisefertig und durchwanderten das Pinzgau aufwärts, mutig im steilen Gelände höher und immer höher der Reichenspitze entgegen. Als die Brüder am Fuße des schroffen Berges angelangt waren, bildete sich Nebel rings um sie her, der wurde dichter und dichter, und aus dem Nebel wurde Nacht, und sie konnten ihre Füße nicht mehr sehen, so finster wurd‘s, und zugleich begann es greulich zu blitzen und zu donnern. Die Brüder sprachen ihre Gebete, riefen einander immer wieder zu und kraxelten langsam vorwärts. Endlich hört das Donnergekrach und das Blitzen auf, die Brüder standen am Scheitel der Reichenspitz, der Nebel schwand und über ihnen lachte der blaue Äther in voller Klarheit, mit einem Male steht ihr Bruder bei ihnen, ganz so, wie sie ihn hatten wandeln gesehen, und sagt: „Dank eurer Liebe und Treue, habt ihr mein Los gewendet hin zur Erlösung“, es wurde sein Jägergewand umgewandelt in ein Lichtgewand und er schwand vor ihren Augen hinweg wie Morgennebel.

#365 Tage Freude am Berg